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Vererbte Traumata

Wer in den Aufbaujahren der Bundesrepublik zur Welt gekommen ist, kennt den Krieg nur noch aus den Erzählungen seiner Eltern oder Großeltern. Doch diese Nachkriegsgeneration erbt von ihren Eltern nicht nur den hart erarbeiteten Wohlstand. Die Traumata des Krieges setzen sich nämlich in den nachfolgenden Generationen fort und erzeugen noch heute Ängste und Gefühle der Einsamkeit und Entwurzelung – eben als vererbte Traumata.

So ist sicher für jeden nachvollziehbar, dass Menschen, die die Schrecken des Krieges, wie die Bombardierung Dresdens oder anderer Städte, die Flucht und Vertreibung unmittelbar erlebt und überlebt haben, für den Rest ihres Lebens davon geprägt sind. Die Nachfahren der Kriegsgeneration sind oft auf einer ganz subtilen emotionalen Ebene mit den Reaktionen ihrer Eltern konfrontiert gewesen. Viele Menschen sind von Ängsten belastet, die die Eltern ausstrahlten.

Menschen suchen Wege, um traumatische Erfahrungen handhaben zu können. Diese Verhaltensmuster wirken auf die Angehörigen, die Menschen, die in unmittelbarer Bindung miteinander stehen. So erlebt ein Kind beispielsweise die seelische Verschlossenheit der Mutter, ihre Angst, ihren Schrecken, oder aber gewalttätige Entgleisungen des Vaters –  das heißt, es wird sekundär traumatisiert. Nicht unmittelbar durch den Krieg, wie die Mutter oder der Vater, aber durch deren Reaktionen, die unmittelbar zusammenhängen mit den elterlichen traumatischen Erfahrungen. So muss auch das Kind selbst wieder Bewältigungsmuster entwickeln, um die eigene Überforderung zu kompensieren.

Symptome und Anzeichen von vererbten Traumata könnten beispielsweise folgende Verhaltensweisen sein:

  • Unerklärbare emotionale Kälte, Gefühllosigkeit
  • Unerklärliches angespanntes Verhältnis zu Mutter oder Vater
  • Schwierigkeiten im Bereich der Sexualität
  • Einlassen auf den Partner oder die Partnerin
  • Partnerschaftliche Bindungsschwierigkeiten; Beziehungsprobleme
  • Tabuthemen aller Art, welche die Familie unbewusst belasten
  • Angst vor engen Räumen
  • Angst vor lauten Geräuschen wie Sirenen, Flugzeugen oder lautem Knall
  • Schreckhaftigkeit
  • Mangelndes oder nicht vorhandenes (Ur-)Vertrauen in andere Menschen oder Systeme
  • Tiefe, scheinbar grundlose, Trauer oder Traurigkeit
  • Todessehnsucht mit wiederkehrenden Selbstmordgedanken
  • Mangelndes Selbstbewusstsein oder Selbstwertgefühl
  • Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen
  • Schuldgefühle, schlechtes Gewissen
  • Zwanghaftes Verhalten

Die Wissenschaft befasst sich ebenfalls mit den vererbten Traumata im Rahmen der Epigenetik. Diese besagt, Gene sind alles andere als starr oder schicksalsbestimmend. Sie lassen sich durch Ernährung, Lebensstil und den Geist ein Leben lang sozusagen „umschreiben.“ Jeder Mensch kann seine Gene fast willentlich an- und ausschalten – und diese Veränderung sogar an seine Kinder weitervererben. Denn wie die Epigenetik zeigt, sind unsere Gene nicht das Gehirn unserer Zellen, sondern vielmehr eine Art Bibliothek von Programmen, die je nach Bedarf aktiviert werden können.

Eigentlich, so wissen wir jetzt, haben wir zwei Genome: Unsere DNS und das Epigenom, das bestimmt, welche Informationen aus der DNS ausgelesen werden. Der Körper reagiert damit nämlich dynamisch auf Umwelteinflüsse und schreibt das aktive genetische Material quasi laufend um. Und wie Forscher inzwischen bewiesen haben, wird das Epigenom sogar noch bis in die dritte Generation an Nachkommen vererbt.

Epigenetische Veränderungen können durch viele Faktoren ausgelöst werden. Nahrung, Umwelt, Emotionen und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen schalten munter in unserem Erbgut herum. Forschungen haben klar gezeigt: Intelligenz, Gesundheit und Charaktereigenschaften lassen sich nachträglich verändern. Unser Geist ist stärker als die Gene. Die Gene steuern uns – aber wir steuern auch sie. Unsere DNA reagiert nämlich mit epigenetischen Phänomenen auf ihre Umwelt. Und sie hat ein Gedächtnis. Nicht nur was in den Genen steht, ist entscheidend, sondern auch, was diese Gene erleben. Sie reagieren auf Erfahrungen, Emotionen und soziale Reize ebenso sensibel, wie auf Gifte aus der Umwelt.

Der Neurologe Michael Meaney wies als einer der Ersten nach, dass Gene aus Erfahrung lernen. Es zeigte auf, dass Mutterliebe bei Mäusen über das Epigenom vererbt wird: Die Liebe der Mäuse-Mutter schaltet ein Gen an, das dafür sorgt, dass ein Rezeptor im Gehirn Stresshormone abbaut. Ohne die Liebe hingegen wurde das Gen ausgeschaltet und die Stresshormone gerieten so außer Kontrolle, dass die Mäuse auch ihren eigenen Nachwuchs lieblos behandelten – wodurch sie das Gen auch bei ihnen ausschalteten. Sobald man ein Junges jedoch in die Obhut einer liebvollen Mutter übergab, wurde das Gen wieder angeschaltet und auch so weitervererbt.

Dass Erfahrungen und die dadurch entwickelten Verhaltensweisen sich vererben lassen, hat weit reichende Konsequenzen: Wir haben damit buchstäblich die Erfahrungen unserer Ahnen in den Genen. So geht man davon aus, dass es auch beim Menschen mehrere Generationen dauert, um in einer Bevölkerung die epigenetischen Folgen von Armut, Krieg und Vertreibung zu heilen.

Für viele Menschen ist es kaum vorstellbar, dass die Traumata der Kriegsgenerationen auch heute noch in uns wirken und dennoch zeigt es die therapeutische Arbeit immer wieder, welche (Fremd-) Energien in uns wirken. An genau dieser Stelle beginnen die Sorgen und Nöte in den Familien. Unerklärliche Verhaltensmuster gestalten das heutige Familienleben schwierig und scheinbar unlösbar. Die Symptomvielfalt ist hierbei sehr groß: Alpträume und andere Schlafstörungen, Ängste, Flashbacks, Herzrasen und Zittern bis hin zu Depressionen und verschiedensten psychosomatischen Erkrankungen. Ohne es zu wissen, liegt die Ursache vieler Krankheiten dort versteckt, wo Schreckliches erlebt aber nicht aufgearbeitet wurde. Hinzu kommen außerdem Suchterkrankungen wie Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch.